

Nachdem Russland am 24.02.2022 die gesamte Ukraine zum Ziel einer großangelegten Militäroperation machte, wusste ich, dass mich dieser Krieg etwas angehen wird. Als Europäer, als Fotograf.
Seither zog es mich mit meiner Kamera schon für zwei Einsätze in den Osten der Ukraine: Während der Gegenoffensive um Kharkiv im August/September 2022 und zu Beginn der zweiten Gegenoffensive weiter südlich im Juni 2023.
Jedes Mal hatte ich die Gelegenheit, Freiwillige aus dem Bereich der humanitären Hilfe zu begleiten, die sich teilweise bis direkt an die Frontlinie wagen, um den hinterbliebenen Zivilisten medizinische Versorgung und Nahrung zur Verfügung zu stellen.
Auch das ukrainische Militär durfte ich bei dem Training einzelner Einheiten durch internationale Ausbilder begleiten – von den Grundlagen der Einzelschützen bis zur medizinischen Erstversorgung von Schusswunden.
"War does not determine who is right - only who is left."
- Bertrand Russell
KRIEGSBERICHT
JUNI 2023

TERRITORIAL DEFENSE FORCES
Nach gut anderthalb Tagen durchgehender Autofahrt, vorbei an zerstörten Gebäuden und von Panzern zermarterten Straßen, ist ein kleiner Ort in der Region Kiev der erste Halt. Das eigentliche Ziel meiner Reise ist das südöstlich gelegene Kramatorsk, etwa 60 Kilometer von Bachmut entfernt. Doch bis dahin gibt es noch einiges zu erledigen. Ein mittlerweile guter Freund, Alex, ein Kanadier, den ich 2022 in der Ukraine kennengelernt habe, leitet zu diesem Zeitpunkt gerade ein Training der TDF (Territorial Defense Forces), einer Organisation der ukrainischen Streitkräfte, bestehend aus Reservisten und internationalen Freiwilligen. Das Training ist nötig: viele der Freiwilligen hatten bis Kriegsbeginn noch nie eine Waffe in der Hand. Es geht um Grundlagen des Schießtrainings, Waffensicherheit, taktische Bewegungen im Feld und nachgestellte Szenarien.

KHARKIV
Weiter nach Kharkiv. Nachdem wir einen Freund besuchen, fahren wir weiter zu einer Großküche, die für das Projekt Feldküche kocht. Die Räumlichkeiten wurden vor Kriegsbeginn im Februar 2022 noch als Pizzeria genutzt, bis der Inhaber nach den ersten Bombenangriffen auf Kharkiv die Stadt verließ. Seit Ende 2022 hat sich «Roxana and her team» hier niedergelassen und kocht für humanitäre Projekte. Gemeinsam mit unserem Übersetzer besichtigen wir im Anschluss eine Feldküche, die in den Bestand des Projekts aufgenommen werden soll. Danach liefern wir eine Kofferraumladung voller Lebensmittel zu einer psychiatrischen Einrichtung in einem Außenbezirk von Kharkiv.

LAGEÄNDERUNG UND DNIPRO
Krieg und dynamische Lagen sind untrennbar, selbst wenn man im Hinterland agiert. Anstatt wie geplant in das südöstlich gelegene Kramatorsk zu fahren, führt die Reise nun nach einer spontanen Planänderung weiter gen Süden nach Dnipro, entlang des Dnepr, dessen Staudämme genau zu diesem Zeitpunkt südwestlich in Kherson gesprengt wurden und eine groteske Flutkatastrophe ausgelöst haben. Das Ziel ist ein kleiner Stützpunkt der Frontline Medics, einer internationalen NGO (Non-Governmental Organisation), die in Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Militär verwundete Soldaten evakuiert und versorgt – von der Erstversorgung bis zum Krankenhaustransport.
Wir beziehen Unterkunft, verbringen einen Tag in Ruhe und sorgen dafür, dass der uns zur Verfügung gestellte Rettungswagen nach geeigneten Standards eingerichtet wird. Am nächsten Tag soll es dann gerüstet nach Saporischschja gehen, wo die eigentliche Arbeit auf uns wartet. Ein Fahrer, zwei Rettungssanitäter, ich und meine Kamera, nur 10 Kilometer von der Frontlinie entfernt.

Mit dem Zug fahre ich in der Nacht von Dnipro über Losowa nach Kramatorsk. Eine zugegeben eigentümliche Erfahrung, gänzlich allein. Die Zugfahrt verläuft, entgegen der Erwartung beim Anblick des alten Ostblockzuges, ruhig und komfortabel. Es gibt kostenlosen, frischen Kaffee; man wird nach Kissen oder Decken gefragt. Bei keiner der angefahrenen Haltestellen auch nur eine Minute Verspätung: mein deutsches Herz erzittert.
Angekommen in Losowa, wo ich vier Stunden warten muss, bis der nächste Zug nach Kramatorsk fährt, begrüßt mich wenig später das Heulen des Luftalarms. Zu stören scheint das hier niemanden, vereinzelt blicken Leute genervt zu den überall hängenden Lautsprechern. Zur Erklärung: Kommt es in einer Region (ein deutsches Äquivalent wäre "Bundesland") zu einem Einschlag, oder wird auch nur eine Rakete auf dem Radar entdeckt, aktiviert sich in der gesamten Region die Sirene. Auch, wenn das 100 Kilometer entfernt der Fall ist. Folgerichtig hat sich die Bevölkerung nach anderthalb Jahren Kriegszustand offenkundig daran gewöhnt. Nicht einmal die zahllosen Straßenhunde zeigen sich in irgendeiner Art und Weise gestört.
Als die Ankunftszeit meines Zuges näher rückt, füllt sich das Gleis langsam mit Uniformen. Soldaten, fast ausschließlich. Kramatorsk ist die letzte Haltestation, bevor es für die meisten an die Front geht. Auf einer Brücke, die über die insgesamt neun Gleise führt, ruft ein kleiner Junge winkend „Slawa Ukraini!“ („Ruhm der Ukraine!“), die unten stehenden Soldaten winken und entgegnen beinahe im Chor mit „Herojam Slawa!“ („Ruhm den Helden!“). Eine surreal romantisierte Situation, die ich, hätte man sie mir so geschildert, vermutlich als Propaganda abgetan hätte.
Der Zug fährt ein. Es geht nach Kramatorsk.

Wie eingangs schon erwähnt, heißt Krieg oftmals Lageänderung. So auch in diesem Fall. Am Abend vor dem eigentlichen Einsatz wird uns mitgeteilt, dass ein weiterer Anästhesie-Arzt dem RTW zugewiesen werden soll, wodurch kein Platz mehr für mich ist. Nach einigem Hin und Her entschließen wir uns, dass sich unsere Wege hier trennen. Für mich geht es mit improvisierten Plänen weiter. Da ich im vergangenen Jahr diverse Kontakte knüpfen konnte, setze ich mich kurzfristig mit einer Gruppe humanitärer Helfer in Verbindung, die bis dato zwar noch in Kherson bei der großen Flut helfen, aber in zwei Tagen wieder zurück in Kramatorsk sein werden. Dort, wohin die Reise ursprünglich gehen sollte.

KRAMATORSK
Angekommen in Kramatorsk tummeln sich nur noch Soldaten und ihre Familien am Bahnsteig. Das Lebewohl könnte für immer sein: von hier ab geht es für die meisten Soldaten zur Front. Bachmut ist zu diesem Zeitpunkt seit drei Wochen gefallen, die Kämpfe im Umland sind noch immer blutig und verlustreich. Etwas weiter vom Lärm des Bahnhofes entfernt, hört man das dumpfe Grollen der ausgehenden Artillerie. Die Frontnähe macht sich bemerkbar. Die Stadt besteht zu gut 70% nur noch aus Militär. Die meisten Fahrzeuge sind oliv lackiert oder gänzlich in Camouflage. Panzer rollen über die Straßen, Soldaten sitzen in Pickups mit weißem Kreuz, der Kennzeichnung der ukrainischen Truppen.
Über einen Kontakt wird mir eine dürftige Unterkunft versorgt, in der ich eine Nacht schlafen und auf die Ankunft meiner eigentlichen Kontakte warte: Lea und Lars. Beide habe ich im vergangenen Jahr in Kharkiv kennengelernt, beide sind seit Kriegsbeginn ununterbrochen in der Ukraine, um freiwillig humanitäre Hilfe zu leisten. Mittlerweile ausschließlich in den Frontgebieten. Dort, wo man keine großen Organisationen mehr findet, weil es schlichtweg zu gefährlich ist. Ich hoffe, mit Ihnen zumindest noch an einer Mission teilnehmen zu können.
Die Wartezeit nutze ich, um mir die Stadt anzuschauen. Deutlich wird, dass hier vornehmlich die Industrie bombardiert wurde. Viele Fabriken, die in irgendeiner Art und Weise militärrelevante Teile herstellten, sind zerstört, sowie auch die umliegenden Wohnhäuser. Entlang der Hauptstraße fahren Panzer stadtauswärts. Das entfernte Grollen der ukrainischen Artillerie ist, genau wie der Luftalarm, allgegenwärtig.

RAKETENEINSCHLAG
Nicht lang, bis mich die Nachricht ereilt, dass in der Nacht vor meiner Ankunft eine Rakete in einem Außenbezirk eingeschlagen sei. Nach kurzer Rücksprache mit Menschen vor Ort erfahre ich, dass der getroffene Bezirk Jasnohirka ist. Ein ziviles Siedlungsgebiet, etwa drei Kilometer außerhalb.
Nachdem meine Freunde von der Fluthilfe in Kherson zurückgekehrt sind, fahren wir zum Einschlagsort: vier Häuser wurden gänzlich zerstört, zwei Menschen kamen dabei ums Leben. Der Explosionskrater ist vier Meter tief, etwa zehn Meter breit. Im Umkreis von 200 Metern fehlen sämtliche Dächer.
Die Anwohner sind bereits dabei, die Trümmer zu beseitigen, die zerstörten Wasser- und Stromleitungen zu reparieren. Im Gespräch mit einem der Anwohner erfahren wir, dass sie mutmaßen, von einer russischen CH-22-Langstreckenrakete getroffen worden zu sein.

EINE LETZTE MISSION
Die letzten Tage verbringe ich gemeinsam mit Lea, Lars - und Holger von Lift Ukraine. Die Hoffnung darauf, gemeinsam mit ihnen noch eine Mission durchzuführen, wird immer geringer – zu viel Organisatorisches muss ihrerseits noch geklärt werden.
Schließlich findet sich dann doch noch eine Möglichkeit: ein CCP (Casuality Collecting Point / Verwundetensammelpunkt) in Frontnähe um Lyman hat Bedarf an medizinischen Utensilien angemeldet. Später erfahren wir jedoch, dass die Sicherheitsvorkehrungen in dieser Region so strikt sind, dass nur Militär besagtes Gebiet betreten kann. Also disponieren wir um und treffen uns mit einer Militärsanitäterin der selben Einheit in einem entstehenden Stabilisierungspunkt außerhalb. Ein leerstehendes, halb zerbombtes Gebäude mit Luftschutzbunker, in dem künftig Verwundete versorgt werden sollen. Weit genug außerhalb, um noch ohne Militärpapiere durch die Checkpoints zu gelangen.
Hier übergeben wir unsere Lieferung und besichtigen die Räumlichkeiten. Das, was für unser westliches Gespür ein abrissreifes Haus ist, wird hier binnen weniger Wochen zu einem kleinen Krankenhaus umfunktioniert.
Während der Rückfahrt nach Kramatorsk fahren wir einen Umweg über die Gebiete, die im letzten Jahr während der Gegenoffensive noch Frontgebiet waren. Kaum ein Stein steht mehr auf dem anderen. Inmitten der Trümmer einstiger Existenzen lauern Panzer.

KRIEGSBERICHT
AUGUST - SEPTEMBER 2022

Die Aufzeichnungen meiner Reise in die Ukraine im August 2022 sind leider verloren gegangen. Es wird daran gearbeitet, sie noch einmal zu Papier zu bringen. Bis dahin findet ihr unterhalb sämtliches Bidlmaterial.
BALAKLIJA
Erweiterter Auszug der Fotostrecke für den Beitrag:
"Das befreite Balaklija: Alles ukrainische hätte beseitigt werden sollen" in der Neuen Züricher Zeitung.
ANNA FJEDOROWNA
Erweiterter Auszug der Fotostrecke für den Beitrag:
"Wie Anna Fjedorowna die Flucht der Russen erlebte – «und plötzlich waren sie weg»" in der Neuen Züricher Zeitung.
VERWUNDETENSAMMELPUNKT
OBLAST KHARKIV
UNFREIWILLIG ZUR FRONT
OBLAST KHARKIV
HUMANITÄRE MISSION
OBLAST KHARKIV
WALDBRAND BEI KHARKIV
OBLAST KHARKIV
